Pressemitteilung
C-639/11, C-61/12;
Verkündet am:
20.03.2014
EuGH Europäischer Gerichtshof
Rechtskräftig: unbekannt! Die von Polen und Litauen auferlegte Verpflichtung, das Lenkrad von Pers Leitsatz des Gerichts: Eine solche Maßnahme geht über das hinaus, was zur Gewährleistung der Verkehrssicherheit erforderlich ist Zum Urteilstext (Englisch!) Zur englischen Version der Presserklärung Die Mitgliedstaaten dürfen die Zulassung, den Verkauf, die Inbetriebnahme oder die Teilnahme am Straßenverkehr von Fahrzeugen, Bauteilen oder selbständigen technischen Einheiten nicht unter Verweis auf Aspekte des Baus oder der Wirkungsweise oder wegen der Lenkanlage untersagen, beschränken oder behindern, wenn diese den Anforderungen der Rahmenrichtlinie 2007/461 und der Richtlinie 70/3112 entsprechen. In Polen und in Litauen, Ländern mit Rechtsverkehr, muss für die Zulassung eines Fahrzeugs das Lenksystem auf der linken Seite des Fahrzeugs angebracht sein oder auf diese Seite versetzt werden, wenn es vorher auf der rechten Seite angebracht war. Da die Kommission der Ansicht war, dass diese Voraussetzung hinsichtlich von Neufahrzeugen gegen die Richtlinien 2007/46 und 70/311 verstößt und hinsichtlich von zuvor in einem anderen Mitgliedstaat zugelassenen Fahrzeugen gegen die unionsrechtlichen Bestimmungen über den freien Warenverkehr, hat sie beim Gerichtshof Klage gegen diese beiden Mitgliedstaaten erhoben. In seinen heutigen Urteilen stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass, was Neufahrzeuge betrifft, der harmonisierte Rahmen die Verwirklichung und das Funktionieren des Binnenmarkts zum Ziel hat und dabei ein hohes Maß an Verkehrssicherheit garantieren will, das durch die vollständige Harmonisierung der technischen Anforderungen u. a. an den Bau der Fahrzeuge gewährleistet wird. Zwar legen diese Richtlinien nicht die Position des Fahrerplatzes eines Fahrzeugs fest, indem sie z. B. bestimmen, dass er sich immer auf der der Verkehrsrichtung gegenüberliegenden Seite befinden muss, es geht allerdings nach Ansicht des Gerichtshofs auch nicht aus ihnen hervor, dass dieser Gesichtspunkt nicht in ihren Geltungsbereich fällt. Der Unionsgesetzgeber hat den Kraftfahrzeugbauern hierbei einen Spielraum gewährt, den die nationalen Regelungen weder aufheben noch beschränken dürfen. Der Gerichtshof hebt sodann hervor, dass das in der Richtlinie 70/311 vorgesehene Verbot kategorisch und allgemein ist, wobei der Begriff „Lenkanlage“ auch den Fahrerplatz, d. h. die Position des Lenkrads der Fahrzeuge als einen wesentlichen Bestandteil der Lenkanlage, erfasst. Da dieses Verbot durch die Akte über die Bedingungen des Beitritts Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland – damals die einzigen Mitgliedstaaten mit Linksverkehr – zu den Europäischen Gemeinschaften hinzugefügt wurde, kann bei vernünftiger Betrachtung nicht die Ansicht vertreten werden, dass der Unionsgesetzgeber sich nicht der Tatsache bewusst war, dass der Beitritt dieser Staaten (von denen einer Hersteller von Kraftfahrzeugen war, deren Fahrerplatz sich rechts befindet) in einem Binnenmarkt, der das Recht auf freien Verkehr umfasst, die Fahrgewohnheiten beeinflussen, ja sogar ein gewisses Risiko im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr mit sich bringen konnte. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass sich die Änderungen, die vorgeschrieben werden können, nicht auf die Versetzung des Fahrerplatzes beziehen dürfen, sondern nur auf geringfügige Eingriffe. Ein so weitreichendes Erfordernis würde nämlich einen substanziellen Eingriff in die Konstruktion des Fahrzeugs darstellen, was dem Wortlaut und dem Ziel der Richtlinie 70/311 zuwiderliefe. Demzufolge stellt der Gerichtshof fest, dass die Position des Fahrerplatzes als wesentlichem Bestandteil der Lenkanlage eines Fahrzeugs von der durch die Richtlinien 2007/46 und 70/311 eingeführten Harmonisierung erfasst wird, so dass die Mitgliedstaaten nicht aus Sicherheitsgründen für die Zulassung eines Neufahrzeugs in ihrem Hoheitsgebiet die Versetzung des Fahrerplatzes des Fahrzeugs auf die der Verkehrsrichtung gegenüberliegende Seite verlangen können. Was zuvor in einem anderen Mitgliedstaat zugelassene Personenkraftwagen betrifft, deren Fahrerplatz sich auf der rechten Seite befindet, sieht der Gerichtshof die streitigen Regelungen als Maßnahmen mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen an, die nach dem Vertrag verboten sind. Diese Regelungen haben nämlich die Wirkung, den Zugang von Fahrzeugen, deren Fahrerplatz sich auf der rechten Seite befindet und die rechtmäßig in anderen Mitgliedstaaten hergestellt und zugelassen worden sind, zum polnischen und zum litauischen Markt zu behindern. Der Gerichtshof prüft das Argument Polens und Litauens, wonach ihre Regelungen wegen der Notwendigkeit, die Verkehrssicherheit zu gewährleisten, gerechtfertigt seien, da diese einen zwingenden Grund des Gemeinwohls darstelle, der eine Behinderung des freien Warenverkehrs rechtfertigen könne. Hierzu führt er aus, dass die in Rede stehenden Regelungen Ausnahmen in Bezug auf die Nutzung von Fahrzeugen mit dem Lenkrad auf der rechten Seite für Personen vorsehen, die in anderen Mitgliedstaaten wohnen und sich für einen begrenzten Zeitraum nach Polen und nach Litauen begeben (z. B. Touristen). Dieser Umstand zeigt, dass die streitigen Regelungen das Risiko aus einer solchen Verkehrsteilnahme tolerieren. Außerdem belegen die von der polnischen und der litauischen Regierung angeführten statistischen Daten nicht hinreichend eine Beziehung zwischen der Zahl von Unfällen und der Beteiligung von Fahrzeugen, deren Fahrerplatz sich auf der rechten Seite befindet. Der Gerichtshof stellt fest, dass es Mittel und Maßnahmen gibt, die den freien Warenverkehr weniger beeinträchtigen und geeignet sind, das Risiko, das die Verkehrsteilnahme von Fahrzeugen mit sich bringt, deren Lenkrad sich auf derselben Seite wie die Verkehrsrichtung befindet, erheblich zu verringern. Die Mitgliedstaaten verfügen hierbei über einen Wertungsspielraum, der ihnen erlaubt, Maßnahmen vorzuschreiben, die nach dem Stand der Technik geeignet sind, zu gewährleisten, dass der Fahrer eines Fahrzeugs, dessen Lenkrad sich auf derselben Seite wie die Verkehrsrichtung befindet, sowohl hinten als auch vorne eine ausreichende Sicht hat (Beispiele: Anbringung zusätzlicher Außenrückspiegel oder Anpassung der Beleuchtungseinrichtungen und der Scheibenwischer). Nach Ansicht des Gerichtshofs können die in Rede stehenden Maßnahmen nicht als für die Erreichung des von Polen und Litauen verfolgten Ziels der Verkehrssicherheit notwendig angesehen werden. Diese Maßnahmen sind daher nicht mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar. Der Gerichtshof kommt zu dem Ergebnis, dass Polen und Litauen gegen das Unionsrecht verstoßen haben. -------------------- HINWEIS: Eine Vertragsverletzungsklage, die sich gegen einen Mitgliedstaat richtet, der gegen seine Verpflichtungen aus dem Unionsrecht verstoßen hat, kann von der Kommission oder einem anderen Mitgliedstaat erhoben werden. Stellt der Gerichtshof die Vertragsverletzung fest, hat der betreffende Mitgliedstaat dem Urteil unverzüglich nachzukommen. Ist die Kommission der Auffassung, dass der Mitgliedstaat dem Urteil nicht nachgekommen ist, kann sie erneut klagen und finanzielle Sanktionen beantragen. Hat ein Mitgliedstaat der Kommission die Maßnahmen zur Umsetzung einer Richtlinie nicht mitgeteilt, kann der Gerichtshof auf Vorschlag der Kommission jedoch bereits mit dem ersten Urteil Sanktionen verhängen. ----------------------- 1Richtlinie 2007/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. September 2007 zur Schaffung eines Rahmens für die Genehmigung von Kraftfahrzeugen und Kraftfahrzeuganhängern sowie von Systemen, Bauteilen und selbständigen technischen Einheiten für diese Fahrzeuge (Rahmenrichtlinie) (ABl. L 263, S. 1). 2Richtlinie 70/311/EWG des Rates vom 8. Juni 1970 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Lenkanlagen von Kraftfahrzeugen und Kraftfahrzeuganhängern (ABl. L 133, S. 10). ----------------------------------------------------- Die von uns erfassten Urteile wurden oft anders formatiert als das Original. Dies bedeutet, daß Absätze eingefügt und Hervorhebungen durch fett-/kursiv-/&farbig-machen sowie Unterstreichungen vorgenommen wurden. Dies soll verdeutlichen, aber keinesfalls natürlich den Sinn verändern.Wenn Sie vorsichtshalber zusätzlich die Originalversion sehen möchten, hier ist der Link zur Quelle (kein Link? 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