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StGB (Stand 31.12.2012)
Strafgesetzbuch
§ 16 Irrtum über Tatumstände (Regelung seit 01.01.1999)
(1) Wer bei Begehung der Tat einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört, handelt nicht vorsätzlich. Die Strafbarkeit wegen fahrlässiger Begehung bleibt unberührt.

(2) Wer bei Begehung der Tat irrig Umstände annimmt, welche den Tatbestand eines milderen Gesetzes verwirklichen würden, kann wegen vorsätzlicher Begehung nur nach dem milderen Gesetz bestraft werden.
I. Der Tatbestandsirrtum

Gem. § 16 I wird der Vorsatz ausgeschlossen, wenn der Täter keine Kenntnis vom Vorliegen eines objektiven Tatbestandsmerkmals hat, d. h. der Handelnde hat bei Begehung der Tat ein Tatbestandsmerkmal überhaupt nicht in seine Vorstellung aufgenommen.

Fallbeispiel: Der 32-jährige A schläft mit der 13-jährigen B, dabei geht er davon aus, dass die schon reif aussehende B bereits 18 Jahre alt sei.

Da der Vorsatz (§ 15) das Wissen und Wollen aller objektiven Tatbestandsmerkmale umfasst, kann der Täter nicht vorsätzlich handeln, wenn er nicht alle Tatbestandsmerkmale kennt.
Tatbestandsmerkmale sind alle Umstände der gesetzlichen Tatbeschreibung, auch wenn sie als ungeschriebene Tatbestandsmerkmale von der Rechtsprechung entwickelt wurden. Sie können sowohl Gegenstände, Vorgänge, Sachverhalte Personen o.ä. sein. Der Täter muss dabei nicht die abstrakte Gesetzesbeschreibung kennen, es ist ausreichend, dass er ein bestimmtes Verhalten mit seinem Straftatbestand erfasst (beachte: Schuldfähigkeit und besondere Gesinnungsmerkmale, wie böswillig und rücksichtslos, sind keine Tatbestandsmerkmale).

A nimmt also irrtümlich ein über der Schutzgrenze des § 182 (Sexueller Missbrauch von Jugendlichen) liegendes Alter an. Der nach § 182 erforderliche Vorsatz entfällt somit

1. Irrtum über das Handlungsobjekt (error in objekto vel persona):

Hier irrt sich der Täter über die Identität oder sonstige Eigenschaften des Tatobjektes.
In diesen Fällen ist zu beachten, dass nach § 16 I 1 sich ein solcher Irrtum nur auf den Vorsatz auswirkt, wenn es aus der Sicht des Täters an der tatbestandlichen Gleichwertigkeit zwischen dem vorgestellten und dem tatsächlich angegriffenen Objekt fehlt.

Fallbeispiel: A geht in den Wald und will auf einen Hirsch schießen, jedoch trifft er die O, die ihren neuen Hut mit einem Hirschgeweih trägt.

Gem. § 16 I 1 scheidet eine vorsätzliche Tötung aus, da die Objekte „Sache“ (§ 303) und Menschen (§ 212) nicht tatbestandlich gleichwertig sind und A nicht wusste, dass er auf einen Menschen geschossen hat. Hier kommt daher nur eine fahrlässige Tötung gem. § 222 in Tateinheit mit einer versuchten Sachbeschädigung gem. §§ 303, 22 in Betracht.

Sind hingegen die Objekte, um die es in dem betreffenden Sachverhalt geht, gleichwertig, so ist dieser Irrtum für die Strafbarkeit unbeachtlich.

Fallbeispiel:A will seinen Nachbarn B erschießen. Er legt sich hinter dessen Garage auf die Lauer. Als der C, der den B besuchen möchte, an die Haustür tritt, denkt der A es sei der B und feuert einen Schuss ab, der den C tödlich trifft.

A hat den Menschen getötet, auf den er mit Tötungswillen geschossen hat. Hier sind beide Objekte gleichwertig. Dies ist ein Fall des unbeachtlichen error in persona.

Davon zu unterscheiden ist das Fehlgehen der Tat (aberratio ictus).

Hier visiert der Täter sein Objekt an, der Angriff geht jedoch fehl und es wird ein anderes Objekt verletzt, welches er nicht verletzen wollte.

Nach der h.M. kommt in diesem Fall sowohl bei der Gleichwertigkeit als auch bei der Ungleichwertigkeit der Objekte hinsichtlich der beabsichtigten Tat nur ein Versuch in Betracht und in Bezug auf die ungewollte Tat die Fahrlässigkeit.

Fallbeispiel: A will den B töten. Er zielt auf den B, doch versehentlich schießt er daneben und trifft den dahinterstehenden C.

Hier ist der A in Bezug auf den B wegen versuchten Totschlags gem. §§ 212, 22 oder gegebenenfalls versuchten Mordes gem. §§ 211, 22 in Tateinheit (§ 52) mit der fahrlässigen Tötung des C gem. § 222 zu bestrafen.

II. Umgekehrter Tatbestandsirrtum

Hier irrt sich der Täter zu seinen Ungunsten. Er hält ein in Wirklichkeit nicht vorliegendes objektives Tatbestandsmerkmal für gegeben, bei dessen wirklichen Vorliegen sein Handeln den gesetzlichen Tatbestand erfüllen würde.

Fallbeispiel: A schießt auf den B. Der B ist jedoch bereits tot.

Dies ist ein Fall des strafbaren, untauglichen Versuchs (§ 22), soweit der Versuch des betreffenden Delikts mit Strafe bedroht ist.

III. Irrtum über privilegierende Tatbestandsmerkmale

§ 16 II regelt die Fälle, in denen der Täter sich Umstände vorstellt, die nicht gegeben sind, er glaubt an Sachverhaltselemente, die zur Anwendung eines milderen Tatbestandes führen. Nach § 16 II ist dann nur nach dem milderen Delikt zu bestrafen. Ohne den Absatz II würde es sich wohl um Fälle handeln, die letztlich wie der Erlaubnistatbestandsirrtum anzugehen wären (natürlich aber so nicht heißen könnten). So ist dies aber eine eindeutig eigene Gruppe.

Fallbeispiel: Der schwer kranke B leidet unter seinen extremen Schmerzen. Durch eine unbedachte Äußerung des B denkt der A, der B wünscht sich den Tod durch seine Hand. Daraufhin tötet der A ihn.

Vorliegend ist der objektive Tatbestand des Totschlages erfüllt. Da A sich jedoch Umstände vorstellt, die zur Anwendung des Tatbestandes der Tötung auf Verlangen (§ 216) führen würde, ist er gem. § 16 II nur nach diesem Delikt zu bestrafen.

IV. Irrtum über die tatbestandlichen Voraussetzungen eines anerkannten Rechtfertigungsgrundes, der Erlaubnistatbestandsirrtum:

Der Täter hält irrig Umstände für gegeben, die im Fall ihres tatsächlichen Vorliegens die tatbestandlichen Voraussetzungen eines anerkannten Rechtfertigungsgrundes erfüllen würden, z. B. nimmt der Täter irrig einen Sachverhalt an, bei dessen Vorliegen er nach § 32 gerechtfertigt wäre, er irrt sich über die Notwehrlage (Putativnotwehr).

Fallbeispiel: A rettet den C vor dem Ertrinken und will ihn wiederbeleben. B sieht das, denkt, C würde überfallen und schlägt A nieder.

Der einem Erlaubnistatbestandsirrtum erliegende Täter handelt nicht in dem Bewusstsein, Unrecht zu tun, also möglicherweise schuldlos. Daher ist ein Lösungsansatz dieser Problematik, den Erlaubnistatbestandsirrtum im Rahmen der Schuld zu prüfen.

Die Einordnung des Erlaubnistatbestandsirrtums ist aber umstritten. Gegenstand der Streitigkeit zwischen den einzelnen, im Folgenden genannten Theorien ist in erster Linie die deliktsdogmatische Einordnung des Unrechtsbewusstseins (eine Ausnahme stellt insofern die teilweise der eingeschränkten Schuldtheorie zugerechnete Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen dar).

1. Vorsatztheorien
Die Vorsatztheorien haben gemeinsam, dass das Unrechtsbewusstsein vom Vorsatz umfasst sein muss, d. h. der Täter muss neben der Kenntnis der Tatbestandsmerkmale auch die Kenntnis haben Unrecht zu tun. Fehlt dem Täter daher das Unrechtsbewusstsein, kann er nicht wegen einer Vorsatztat bestraft werden, es würde allenfalls eine Bestrafung wegen Fahrlässigkeit in Betracht kommen.

Danach handelt der Täter unvorsätzlich gem. § 16 I 1, so dass eine Strafbarkeit in dem oben genannten Fallbeispiel nach § 223 nicht in Betracht kommt.

(Diese Theorie lässt jedoch bei allen Irrtümern den Vorsatz entfallen, dies ist nicht mit § 17 vereinbar. Es entsteht eine leichte Unsicherheit zum Prüfungsstandort, denn als Anhänger dieser Vorsatztheorien muss ich diese Frage im subjektiven Tatbestand und nicht in der Schuld prüfen).

2. Schuldtheorien

In den Schuldtheorien ist die rechtliche Einordnung des Irrtums über die Rechtfertigungsgründe ebenfalls umstritten.

2.1. Strenge Schuldtheorie
Die strenge Schuldtheorie behandelt den Erlaubnistatbestandsirrtum wie den Erlaubnis- bzw. Verbotsirrtum und wendet ausschließlich den § 17 an.
Demnach ist hier zu fragen, ob der Irrtum des Täters gem. § 17 S.1 unvermeidbar war. Dazu ist erforderlich, dass der Täter auch bei gehöriger Gewissensanspannung nicht hätte erkennen können, dass kein Angriff vorliegt. Das Maß richtet sich nach den Umständen des Falles. Bei Unvermeidbarkeit des Irrtums handelt der Täter gem. § 17 S.1 ohne Schuld. Ist der Irrtum hingegen vermeidbar (wie es meistens der Fall sein wird), so kann die Strafe gem. § 49 I gemildert werden (§ 17 S.2).

2.2. Eingeschränkte Schuldtheorie
Die eingeschränkte Schuldtheorie behandelt den Erlaubnistatbestandsirrtum nach dem § 16 I. Es besteht in soweit Einigkeit, dass eine Bestrafung wegen vorsätzlicher Straftat nicht in Betracht kommt, sondern dem Täter allenfalls ein Fahrlässigkeitsvorwurf gemacht werden kann, da der Täter sich grundsätzlich rechtstreu verhalten will.

Es ist jedoch unter dogmatischen Gesichtspunkten umstritten, wie dieses Ergebnis erlangt wird.

2.2.1. Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen
Hiernach handelt es sich bei den Rechtfertigungsgründen um Tatbestandsmerkmale eines sog. Gesamtrechttatbestandes. Die Vertreter dieser Theorie gehen also von einem zweigliedrigen Deliktsaufbau aus. Da jedoch schon aus § 32 ersichtlich ist, der von Rechtswidrigkeit spricht, dass von einem dreistufigen Deliktsaufbau auszugehen ist, ist dieser Theorie nicht zu folgen.

2.2.2. Lehre vom Ausschluss des Vorsatzunrechts
Die Vertreter dieser Lehre wenden § 16 I analog an und lassen den Vorsatz entfallen. Nach dieser Theorie würde man aber unbillige Strafbarkeitslücken im Teilnahmebereich erhalten, da hier eine vorsätzliche, rechtswidrige Haupttat vorausgesetzt wird.

2.2.3. Rechtsfolgenverweisende eingeschränkte Schuldtheorie (h. L.)
Auch hier wird § 16 I analog angewendet. Diese Theorie lässt jedoch nur den Vorsatzschuldvorwurf entfallen.

Für diese Theorie sprechen insbesondere rechtspolitische Erwägungen. Hiernach bleibt die Tat nach den Grundsätzen der limitierten Akzessorietät teilnahmefähig. Denn ansonsten würde der Teilnehmer, der den Irrtum nicht aufweist, über den Einheitstäterbegriff nur als Fahrlässigkeitstäter und damit schuldunangemessen bestraft werden können. Des Weiteren würde ein Vorsatzausschluss insofern auch inkonsequent sein, da er im Rahmen des subjektiven Tatbestandes bereits bejaht wurde und vorliegend nur die Schuld des Täters in Frage steht.

Anmerkung: Beachte bei der Prüfung, dass bei Einschlägigkeit des Erlaubnistatbestandsirrtums noch das Fahrlässigkeitsdelikt zu prüfen ist. § 16 I S.2, die Strafbarkeit wegen fahrlässiger Begehung bleibt unberührt. Dies vergessen häufig einige Studenten.


Ich danke den Begründern dieser Kommentierung, Rechtsreferendar Daniel Großmann (jetzt Anwalt in Dessau/ Roßlau) und Stud. jur. Constanze Großmann (jetzt Anwältin in Hamburg)für ihre Vorarbeiten.
Urteile nach 30.11.2000, also nach Abschluss dieser Kommentierung